Berlin in alten Lexika

Von Bernd Schimmler

In alten Lexika zu stöbern ist manchmal sehr interessant. So findet man zu Berlin sehr treffende aber auch sehr unterschiedliche Beschreibungen. Während die ersten deutschsprachigen – für ein größeres Publikum bestimmten - Lexika  Berlin mit 3-4 Seiten abhandeln, die aber trotzdem die Entwicklung der Stadt zeigen, wie noch zu sehen sein wird, wird mit der Bedeutung Preußens in Deutschland in den fünfziger Jahren auch das Interesse des Bildungsbürgertum an Berlin im Seitenumfang der Lexika deutlich.

Während Herders Conversations-Lexikon. Kurze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswerthen aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur- und Gewerbekunde, Handel, der Fremdwörter und ihrer Aussprache etc. etc., Erster Band: A – Car, Zweite Ausgabe [der unveränd. ersten Auflage], Freiburg im Breisgau: Herder´sche Verlagsbuchhandlung, 1857, noch  mit wenigen Seiten auskommt, finden sich in dem im selben Jahr erschienenen Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, Zweiter Band: Aug... – Bodmer, Altenburg: Verlagsbuchhandlung von H.A. Pierer, 1857, bereits 51 Seiten über Berlin, erstmals auch mit der Erwähnung des Gesundbrunnens, bzw. des Luisenbades.

Deutlich umfangreicher, auch wegen der Entwicklung der Industriegeschichte ist dann Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neu bearbeitete und vermehrte Auflage. Mit mehr als 16,800 Abbildungen im Text und auf über 1500 Bildertafeln, Karten und Plänen sowie 160 Textbeilagen. Zweiter Band: Astilbe bis Bismarck. Neuer Abdruck. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1905, das Berlin immerhin auf 64 Seiten darstellt.

Die berühmte Encylopædia Britannica brauchte hierfür 1995 eng beschrieben nur sieben Seiten, einschließlich der umfangreichen Geschichte Berlins.

Wie die verschiedenen Autoren Berlin darstellten zeigen zwei Beispiele:

In dem Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit.
( In sechs Bänden, Erster Band: A bis E, Amsterdam: Im Kunst- und Industrie-Comptoir, 1809. S.148-149) wird Berlin wie folgt vorgestellt:

“Berlin, die unmittelbare Hauptstadt, Residenz und erste Stadt aller königl. Prenß. und churfürstl. Brandenburgischen Lande, in Churbrandenburg, eine der schönsten Städte in Europa. Alle Gassen sind, wenige ausgenommen, breit und gerade, und die Anzahl der schönen Häuser ist überaus beträchtlich. Berlin hat 15 meist schön gebaute Thore, 268 Straßen und Plätze, 36 Brücken und 33 Kirchen. Der ganze Umfang beträgt 2 1/3 Deutsche Meilen. Zu Ende des Jahres 1785 beliefen sich die Vorderhäuser oder eigentlichen Häuser auf 6644, ohne die öffentlichen Gebäude. Die Stadt besteht aus folgenden Theilen: 1) Berlin mit seinen Vorstädten; 2) Cölln an der Spree, nebst Neu- Cölln und der Cöllnischen oder Köpenicker Vorstadt; 3) der Friedrichswerder, zwischen zwei Armen der Spree; 4) die Dorotheen oder Neustadt; 5) die Friedrichsstadt. Vorzüglich merkwürdig sind: der königl. Pallast; die lange Brücke, mit der Bildsäule Churfürst Friedrich Wilhelms, in Cölln; das Zeughaus, eines der schönsten Gebäude in Europa, in dessen Hofe, anstatt der Schlußsteine, die ein und zwanzig Schlüterschen Larven, welche so viel Gesichter sterbender Personen vorstellen, stehen; das königl. Gießhaus (in Friedrichswerder); die königl. Ritterakademie; das Cadettenhaus; die Parochialkirche; die Garnisonkirche, in welcher vier schöne Gemählde von B. Rode sind; das Invalidenhaus (in Berlin); das Opernhaus; die neue Bibliothek, deren Baukosten 180000 Thl. betrugen (in Neustadt); die Porzellan-Fabrik; der Wilhelmsplatz, mit den marmornen Bildsäulen der berühmten Preußischen Feldherren und Krieger; das National- Theater; die Französische Kirche, mit ihren von Friedrich II. erbauten schönen Thürmen (in Friedrichsstadt); ferner die königl. Akademie der Wissenschaften; das königl. medicinisch-chirurgische Collegium; und die Gymnasien. Unter den wissenschaftlichen Anstalten sind merkwürdig: die königl. und die mit derselben verbundene Spanhemische Bibliothek, wo auch Otto Guerike´s erste Luftpumpe verwahrt wird; die k. Kunst und Naturalien Kammer; die k. Gemählde-Sammlung auf dem Schlosse; das königl. Münzcabinet; D. Biochs Fisch-Sammlung (unter den Sammlungen); der königl. Thiergarten, in welchem der Churfürstenplatz oder der Zirkel der Hauptversammlungs-Ort ist (unter den Spaziergängen). In Ansehung der Bevölkerung ist Berlin die zweite Stadt in ganz Deutschland; es zählt gegen 112000 Menschen, die Garnison nebst ihren Weibern und Kindern, die man über 32000 schätzt, ungerechnet. – (Beschreibung der königl. Residenz Städte Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten. Neue Auflage. 2 B. 8. von Herrn Nicolai.”

Annähernd dreißig Jahre später wird der gebildeten Damenwelt in dem “Damen Conversations Lexikon” (Herausgegeben im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C. Herlosssohn, Bd. 2, Leipzig: Fr. Volckmar, 1834, S.15-18) Berlin merkwürdig ähnlich , aber doch anders vorgestellt:

“Berlin, die Hauptstadt des Königreichs Preußen, hat 7200 Wohnhäuser und 260,000 Einwohner, 224 Straßen, 20 öffentliche Plätze, 31 Kirchen, 36 Brücken, 103 Fabriken, 500 Brunnen etc. Die merkwürdigsten Gebäude sind: das königl. Schloß, die Palais des Königs, der Prinzen Wilhelm, Karl, Albrecht, August; das Opernhaus, das Schauspielhaus, das Museum, die Universität, das Zeughaus, die Akademie, die Bibliothek, das Invaliden- und Cadettenhaus, die Artillerie- und Ingenieurschule, die Börse, das Seehandlungsgebäude, die Bank, das königstädter Theater etc. Die schönsten Straßen sind: die Linden, die Friedrichs-, Königs-, Leipziger- und Lindenstraße; unter den Plätzen zeichnet sich der Opernplatz, der Gensdarmenmarkt, der Wilhelms-, Alexander-, Dönhofs- und Schloßplatz etc. aus. Die merkwürdigsten Kirchen sind die Domkirche, die neue Werdensche und die katholische. Alle Straßen und Plätze sind frei, die Häuser nicht unverhältnißmäßig hoch, die Paläste elegant und geschmackvoll erbaut. Die Zierde der prachtvollen Linden ist das großartige brandenburger Thor. Berlin hat eine große Anzahl von Kunst-, wissenschaftlichen- und wohlthätigen Anstalten. Von öffentlichen Vergnügungsorten sind der Thiergarten, das Tivoli, das Elysium und das Coloseum zu nennen. Entferntere Spaziergänge sind Charlottenburg, Stralau, Treptow etc. Der Handel ist beträchtlich, ebenso das Fabrik- und Manufakturwesen. – Berlin hat als große Stadt auch einen großstädtischen Charakter, nur erscheinen nicht ungeheurer Reichthum und schreiende Armuth so schroff als Gegensätze neben einander, wie in andern Hauptstädten. Alles athmet den wohlthuenden Geist einer allgemein wachsenden Wohlhabenheit, eines schönen Bürgerthumes. Berlin ist der Mittelpunkt der modernen germanischen Kultur, des wissenschaftlichen Aufschwungs. Der Berliner ist in der Regel ein geborner und häufig auch ein erzogener, wo nicht verzogener Kritiker. Er ehrt und fördert die Wissenschaft, er liebt die Kunst, er betet sie an; aber er liebt sie oft mehr, um darüber zu sprechen, sein Wissen und seinen Scharfsinn daran üben zu können. Er liebt das Vergnügen, aber nicht vorzugsweise das öffentliche (das Theater ausgenommen). Nur das gemeine Volk gefällt sich in öffentlichen rauschenden Vergnügungen. Der gebildete Berliner fühlt sich am wohlsten im Kreise seiner Familie, der eng abgeschlossenen Freunde und Bekannten, der laut und still verbrüderten Genossenschaft bei Scherz, Tanz, Kunstgespräch; daher die ästhetischen Thees. Er verehrt, oft nicht ohne Vorurtheil das Einheimische und ist zuweilen ungerecht gegen das Fremde, aber er freut sich herzlich der fremden Anerkennung, wenn sie ihm zu Theil geworden und offenbart dann mit Liebenswürdigkeit seine herzlichen Seiten. Er ist in der Regel häuslich, ernst, männlich, decent, mäßig. – Die Hauptzierde dieser an sich erfreulichen und edlen Geselligkeit bilden die Frauen und Mädchen Berlins. Regelmäßige Züge finden sich bei den Berlinerinnen häufig, schlanker, edler Wuchs zeichnet sie aus. Hände und Füße sind nicht unverhältnißmäßig groß. Der Teint ist rein, mehr weiß als rosig, mehr blaß als schimmernd und durchsichtig. Alles athmet Anstand und Decenz an der Berlinerin: Haltung, Gang, Bewegung. Sie ist oft graziös, elegant in ihrer Erscheinung, liebt die Mode, ohne darin immer gewählt genug zu sein; sie ist gebildet, wißbegierig, spricht gern, oft munter, lebhaft, zuweilen recht tiefsinnig und gelehrt über Kunst und Wissenschaft. Alle Berlinerinnen sind Damen und machen sich als solche geltend. Sie sind fromm, besuchen gern die Kirche, doch muß der Prediger gut predigen und ästhetisch genügen. Die Zahl der mystisch-pietistischen Damen ist nicht unbedeutend; doch wirken sie nur selten störend auf die edlere Geselligkeit ein. Die Berlinerin liest Viel, nicht immer mit Auswahl. Sie ist stolz, eine Berlinerin zu sein, weil sie überzeugt zu sein glaubt, daß sich in ihrer Vaterstadt Aufklärung, Wissen, Geschmack und Bildung auf einer solchen Höhe der Vollendung befinden, wie nirgends anders. Sie ist durchdrungen von dem schönen christlichen

Gefühle der Wohlthätigkeit, der Milde, der Selbstaufopferung. Sie spart oft, um mildthätig sein zu können; es ist dieß keine Ostentation, sondern Tugend. Sie sind häuslich, wirthschaftlich, sorgfältig in Küche, Keller und Waschkammer. An der edlen Thätigkeit und Resignation der Frauen erblüht der Wohlstand der meisten berliner Familien. Freier, und weniger ängstlich, gibt das berliner Mädchen sich allen geselligen Freuden hin, als dieß anderwärts üblich ist; aber ernster und würdiger zieht sie als Frau in den Kreis ihres Berufes und ihrer Pflichten sich zurück. Der Name einer berliner Hausmutter ist der schönste Ehrentitel einer deutschen Frau. Der Hof in Berlin lebt Allen ein Muster in häuslichen Tugenden, in Familienfreuden, in edler, einfacher Behaglichkeit, im Genuß der Kunst und ihrer unversiegbaren Schätze. – Hat sich das uralte Vieleck der Rangordnung und Titelsonderung am Geiste unserer Zeit vollens zur Kugel abgerundet und polirt, so sind alle Elemente vorhanden, um Berlin zu einer wahrhaft großen Stadt, zu einer Stadt der edelsten Lebensgenüsse, der freiesten, geistigen Bewegung, zu einer Stadt der Notabilitäten, wie es keine Andere sein kann, zu erheben.”

Man merkt, dass hier mehr der Blick auf die weibliche Sichtweise der Stadt gelegt wird. Aber noch andere Merkmale sind auffällig. So erweiterte sich die Stadt in 50 Jahren nur um 600 Wohnhäuser erreichte aber eine Bevölkerung von 260 000 Menschen. Soldaten und Bewohner des sogenannten Weichbildes wurden wohl voll mitgezählt.